» Viele von denen, die damals eingeschmissen haben, leben heute nicht mehr « Internationale Sportveranstaltungen wie die Tour de France kannte er nur aus der Zeitung. Er wusste auch, wer gerade das Regenbogentrikot hatte und Weltmeister war. Aber der eigene Gesichtskreis blieb immer lokal. Im Berliner „Radsport“ veröffentlichten die Vereine ihre Rennen. Und Bolle war stolz, wenn er las: „Der talentierte Dieter Mehlitz ist Achter geworden.“ Jeden Sonntag fanden Radrennen in West-Berlin statt: auf der Bellermann und der Afrikanischen Straße im Wedding, am Unionsplatz in Moabit. Und natürlich das Rollbergrennen. „In Neukölln waren die Preise nicht gerade lukrativ. Damals sind die Vereine hausieren gegangen, an der Strecke in den Läden. In der Karl Marx Straße haben sie im Bekleidungshaus Knaack geschnorrt. Und der hat seine Ladenhüter rausgegeben. Für den zweiten Platz ein Oberhemd, Größe 46. Und das als Jugendfahrer!“ Indessen zogen die honorigen Vereinsvorsitzenden die Kneipe vor. Ab und zu lugten sie hinaus, um rasch eine Anfeuerung anzubringen. Dann waren sie wieder verschwunden. „Die waren an die 60 und sind in den Dreißigerjahren Rennen gefahren. Ich bin heute zwar älter, aber damals kamen sie mir sehr alt vor.“ Obgleich Bolle hier Respektsperson ist und dank seiner Vereinsarbeit auch berlinweit bekannt, hielt seine Karriere nur wenige Jahre: „1955 war ich deutscher Jugendmannschaftsmeister im Vierer- Mannschaftsfahren. Ich war 99 Mal unter den ersten 10 und habe 25 Radrennen gewonnen. Aber ich musste sehr früh heiraten und meine Familie ernähren, so hatte ich keine Zeit mehr zum Trainieren.“ Die Zeitungsfahrer empfand er als die größten Konkurrenten. „Die Berliner Zeitungsfahrer waren gegenüber uns immer im Vorteil. Sie hatten einen Stapel Zeitungen hinten auf dem 018
Gepäckträger und haben die an den Kiosken abgeschmissen. Das ging schon morgens um vier Uhr los. Früher gab es mehrere Ausgaben täglich. Und wenn du dann noch eine Familie hattest, konntest du dem Druck nicht standhalten.“ Aber die waren in der Konkurrenz und haben alles dafür getan. Wenn es sein musste, so Bolle, auch mit einer Pille. „Viele von denen, die damals eingeschmissen haben, leben heute nicht mehr. Zum Beispiel Achim Holz, mit dem ich trainiert habe, der als Profi Steherrennen gefahren ist. Der hat reichlich eingeschmissen. Er war schwer nierenkrank und musste schon vor zwanzig Jahren zur Dialyse. Dann ist er auf die schiefe Bahn gekommen und hat sich sein Leben so richtig versaut: Zigarettenlaster geklaut. Später ist er elendig verreckt.“ Plötzlich holt Bolle selbst eine Pille hervor: „Ich nehme jetzt eine Wassertablette, das ist kein Doping.“ Sprach´s, schluckte die Tablette und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Mit den Lifestyle-Alten, die dir in jugendlichen Klamotten auf Rollerblades entgegenbrettern, hat Bolles heutige Mannschaft wenig am Hut. Besser trifft es die neu variierte britische Formel: „Keep calm and ride your bike.“ Ihre wöchentliche Routine lebt von einer sportlichen Nüchternheit, die sich auf Wesentliches konzentriert, dem Vereinssport entspringt und nicht immer gut auf die Eventkultur heutiger Jedermannrennen zu sprechen ist. Biografisch bildet die Gruppe so etwas wie die letzte Enklave West-Berlins. Beruflich könnten sie ohnehin einen kleinen Staat aufmachen: Ehemalige Techniker, Kaufleute, Verkäufer, Richter und Polizeibeamte sind darunter. Gerhard Mailahn, 77, war Chemiker. Er trägt zwei Spitznamen. Der eine niedlich, der andere Furcht einflößend: „Duracell-Hase“ und „Zerstörer“. Duracell-Hase, weil er vom ersten bis zum letzten Tritt, bergauf, bergab den gleichen runden Rhythmus hält. Nur will der in letzter Zeit nicht mehr so ganz gelingen: „1987 hat mich ein VW-Bus 019
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